Wie Temu funktioniert - und warum der Online-Marktplatz so erfolgreich ist (2024)

In nur neun Monaten kämpfte sich Temu auf Rang vier der Online-Marktplätze in Deutschland. Dank eines ausgeklügelten Geschäftsmodells sind die Produkte spotbillig. Das ist nicht nur eine Gefahr für deutsche Einzelhändler, sondern auch für Amazon.

Kann bei einer Uhr für drei Euro, Bluetooth-Kopfhörern für fünf Euro oder einer nagelneue Elektro-Zahnbürste für knapp 2,50 Euro alles mit rechten Dingen zugehen? Deutsche Einzelhändler und Hersteller fühlen sich von den Dumpingpreisen der chinesischen Plattform Temu bedroht.

In nur neun Monaten schaffte es das Unternehmen auf Platz vier der Rangliste der meistgenutzten Onlinemarktplätze in Deutschland und liegt damit direkt hinter Amazon, Ebay und nur noch knapp hinter dem deutschen Anbieter Otto, wie das "Handelsblatt" berichtet.

Hinter dem Marktplatzwunder aus China steckt die Gruppe Pinduoduo (PDD) Holding, die 2015 von Huang Zheng, dem viertreichsten Mann Chinas, gegründet wurde. Das Unternehmen fokussierte sich mit der gleichnamigen Shopping-App Pinduoduo zunächst auf den chinesischen Markt, wagte 2022 mit der Gründung von Temu den Schritt in die USA und betrat 2023 den europäischen Markt. Mit Erfolg.

Temu als "Amazon-Killer"?

"Ich glaube nicht, dass Temu eine Eintagsfliege ist", sagt Gerrit Heinemann im Gespräch mit CHIP. Er ist Experte für Onlinehandel und E-Commerce und forscht an der Hochschule Niederrhein. Heinemann hat beobachtet, wie die PDD Holding es in kurzer Zeit geschafft hat, ein völlig neues Geschäftsmodell zu etablieren. Er sagt sogar: "Temu hat das Potenzial, ein Amazon-Killer zu sein."

Im vergangenen Jahr soll die PDD Holding Umsätze von mehr als 30 Milliarden Dollar erwirtschaftet haben, erzählt Heinemann und bezieht sich dabei auf Analysen von Excitingcommerce und Angaben der PDD-Gruppe.

Bei einer geschätzten Profitabilität von 26,6 Prozent wären das etwa 8 Milliarden US-Dollar Gewinn. Wie lässt sich mit derart billigen Produkten so viel Geld verdienen? Tatsächlich entsprechen die Anteile an den verkauften Produkten nur etwa 21 Prozent des Gesamtumsatzes der PDD Holding.

"Das eigentliche Kerngeschäft sind die Vermarktungs-Services, die circa 78 Prozent des Umsatzes ausmachen", erklärt Heinemann. "Und die funktionieren offensichtlich sehr gut, denn wenn man auf Google oder TikTok nach einem Produkt sucht, erscheint überall nur noch Temu, Temu, Temu."

Problem für deutsche Käufer: Was bei Temu-Rücksendungen schiefgehen kann

Temu liefert von der Fabrik an den Endkunden

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Die Hersteller verkaufen ihre Ware quasi direkt vom Fließband an den Endkunden - ohne Zwischenhändler. Für die Vermarktung ihrer Produkte zahlen sie jede Menge Geld an die PDD-Gruppe.

"Temu ist eine große Gefahr für den deutschen Konsumgüter-Einzelhandel. Denn genau die gleichen Produkte, die vorher teuer über Zwischenhändler auf den deutschen Markt gebracht wurden, können Kunden jetzt deutlich günstiger direkt über Temu bestellen", sagt Heinemann.

Der rasante Aufstieg Temus sorgt hierzulande für Unbehagen. Deutsche Spielzeughersteller klagen zum Beispiel darüber, dass Rohstoffe und Energie teurer werden und immer mehr bürokratische Hürden aufkommen.

Gleichzeitig ist da die neue Konkurrenz aus China. "Das ist kein fairer Wettbewerb mehr", sagte Paul-Heinz Bruder, Chef des Fürther Unternehmens Bruder-Spielwaren, vor kurzem der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Immer mehr Produkte kommen aus Asien

Klar ist aber auch: Viele deutsche Unternehmen lassen selbst Produkte in Asien herstellen. Der Sportartikelhersteller Adidas etwa erklärte in einem Geschäftsbericht, dass 2022 ganze 97 Prozent der Schuhe in Asien - vorwiegend Indonesien, Vietnam und China - produziert wurden.

Dass Waren aus Asien eingeführt werden, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen: Von Januar bis September 2023 wurde Bekleidung im Wert von 27,8 Milliarden Euro nach Deutschland importiert. China gilt dabei als wichtiges Lieferland.

Für die Einfuhr sind in der Regel Zollgebühren und Einfuhrumsatzsteuern fällig. Elektrogeräte müssen zudem nach CE-Qualitätsstandards geprüft sein und ein entsprechendes Siegel aufweisen.

Wenn ein Kunde Produkte unter einem Wert von 150 Euro aus China bestellt, muss er keine Zollgebühren bezahlen. Die Qualität wird allerdings nur stichprobenartig überprüft. Mängel sind keine Seltenheit, wie das WDR-Magazin "Servicezeit" bei einer Reihe an Temu-Testkäufen herausfand.

Ebay, Amazon und Temu: Viele ähnliche Produkte

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Trotzdem: Dass Kunden für Temu-Produkte in der Regel keinen Zoll bezahlen müssen, spielt dem Online-Marktplatz in die Karten. Auch andere Verkäufer gehen so vor, wie eine kurze Internet-Recherche zeigt. Dass die Produkte direkt aus China geliefert werden, ist meist nicht sofort ersichtlich.

Heinemann beobachtet: "Bei den Produkten auf Amazon, Ebay und Temu gibt es eine riesige Schnittmenge." Vieles deutet darauf hin, dass auf allen dieser Marktplätze Produkte aus denselben Fabriken zu je unterschiedlichen Preisen angeboten werden.

Eine Sache macht Temu aber einzigartig: Wer dort einkauft, den erwarten Minispiele, Drehscheiben, bunte Banner und Rabattcodes ohne Ende. Temu versucht um jeden Preis, die Aufmerksamkeit des Nutzers bei sich zu halten. So werden Kaufanreize geschaffen, und zwar deutlich stärker als auf anderen Online-Marktplätzen.

Kritisiert wird deshalb, dass Temu den Konsum befeuert und der Nachhaltigkeit schadet. Nach Informationen des "Handelsblatts" werden täglich 200.000 Temu-Pakete nach Deutschland geliefert.

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"Temu spielt besser als alle anderen"

"Nachhaltigkeit interessiert den Kunden zwar, er handelt aber nicht danach". E-Commerce-Experte Heinemann erkennt eine klare Diskrepanz zwischen dem, was in Umfragen behauptet wird, und dem, was die Kunden tatsächlich kaufen.

"Machen wir uns nichts vor: Das, was in den Geschäften liegt, muss auch erst aus Fernost zu uns transportiert werden", sagt er zum Thema Nachhaltigkeit. "Das ist kein Argument gegen Temu, sondern ein Argument gegen unsere Art des Konsums."

Mit Shein, AliExpress, Wish und Temu drängen immer mehr chinesische Anbieter nach Europa. Heinemann sieht Temu aber ganz klar an der Spitze: "Temu betreibt hervorragendes Kundendatenmanagement, auch unter Einsatz von KI. Sie spielen einfach besser als alle anderen."

Dass Temu sich auch für die langen Lieferzeiten von vier bis zu vier Wochen noch eine Lösung überlegen wird, davon ist der Experte überzeugt. "Der deutsche Onlinehandel muss auf jeden Fall auf Temu reagieren. Sich jetzt von der Politik Hilfe zu versprechen, reicht nicht aus."

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